Stephen Kings „Carrie“ – Wenn der Teufel dein Vater ist
Auf der Suche nach dem „wahren“ Horror
Stephen Kings Erstlingswerk „Carrie“, welches er selbst eigentlich nicht als gelungen ansah und das seine Frau als seine erste „Testleserin“ aber für durchaus veröffentlichungswert hielt, enthält einen Komplex psychologischer Motive, die als Hintergrund für den Horror dienen. Insofern kann man gerade an diesem Werk die Frage abhandeln: Was macht (literarischen) Horror aus?
Stephen King, den ich im Gegensatz zu vielen anderen Literatur-Interessierten für einen sehr guten Autor halte und auch gerne (trotz der Länge der Texte) gelesen habe, stellt sich in seinen theoretischen Abhandlungen im Buch „Danse Macabre“ selbst diese Frage. Als „Horror-Autor“ hatte er trotz oder gerade auch wegen seines immensen Verkaufs-Erfolges ständig das Problem, nicht als einer der „Großen“ gesehen zu werden. Horror-Literatur haftet ganz einfach der Makel der Trivialität an. Ich allerdings halte Stephen King stilistisch und in der erzählerischen Qualität für einen der ganz großen englisch-sprachigen Autoren, der es mit den anderen Größen aufnehmen kann. Seine Romane sind auch keine Horror-Schocker im herkömmlichen Sinne (obwohl auch dagegen nichts einzuwenden ist, wenn sie gut gemacht sind), sondern subtile psychologische und gesellschaftskritische Bilder mit teilweise auch durchaus an die Trivialität grenzenden Horror-Elementen.
In „Carrie“ verwendet Stephen King als Hintergrund psychologische Grundsituationen, wie sie Menschen tagtäglich erleben: Mobbing durch Mitschülerinnen, eine kontrollierende, bigotte und religiös fanatische Mutter, welche ihre eigenen sexuellen Probleme, Ängste und vor allem Schuldgefühle auf ihre Tochter überträgt, um dieser kein eigenes selbständiges Leben und keine normal sich entwickelnde Sexualität erlaubt, daraus resultierende Schwierigkeiten im Erwachsenwerden, sowie die mangelnde Einfühlung der Gesellschaft und deren Versagen, die zwar bereit ist, zu beobachten und auszugrenzen, aber nicht zu helfen. Dies alles wird vom Autor mit einer Horror-Thematik verwoben.
Wenn man sich hier jetzt die Frage stellt, was der wahre Horror ist, dann lässt sich dies anhand des Romanes erläutern. Ein großer Punkt ist die Einsamkeit eines jungen Menschen, in dem Fall Carrie, die in einem Haus gefangen ist mit einer verrückten, kontrollierenden und religiös fanatischen Mutter. Um ihren eigenen sexuellen „Fehltritt“, der zur Geburt von Carrie geführt hat, zu entschuldigen, schiebt sie ihre eigene Handlung auf einen übernatürlichen Einfluss, nämlich den Teufel, der sie gezwungen hat, mit ihm Verkehr zu haben. Damit kann sie alle Verantwortung für ihr Handeln von sich weisen, und Carrie, der lebende Beweis der Verbindung, muss dafür büßen. Die Sexualität wird dem Bösen zugeschoben und auch in der Tochter Carrie verdammt. Carrie wächst ohne Aufklärung mit der Verdammnis ihrer eignen Sexualität und ihres eigenen Körpers auf. Sie erhält kein Wissen über die Vorgänge in der Pubertät und ist mit sich allein gelassen. Durch die Abschottung nach außen kann auch kein Wissen von externen Personen zu ihr gelangen. Die Isolation führt auch dazu, dass Carrie durch ihre Erziehung den anderen Jugendlichen seltsam erscheint und deshalb nicht in die Gemeinschaft aufgenommen wird. Aber auch die Erwachsenen machen sich nicht die Mühe, Carrie zu schützen oder zu integrieren, und nehmen den Zustand so hin, wie er ist.
Das zweite Element des realen Horrors ist der religiöse Fanatismus, der hier mit archaischen Elementen gekoppelt ist. Die Vorstellung des „Incubus“ aus der Mittelalter, die mit den Hexen in Verbindung gebracht wurde, wird von der Mutter Carries wieder belebt. Der Teufel sucht sich Frauen, mit denen er Geschlechtsverkehr hat. Die Mutter schiebt ihre Empfängnis auf die Anwesenheit des Teufels und somit ist Carrie die Tochter des Teufels. Carrie wird von ihrer Geburt an eine Schuld gegeben, dass sie durch Sexualität entstanden ist. Der Gedanke findet sich ja auch in der Ursünde in der christlichen Religion, die erst durch die Taufe weggewaschen wird. In dem „Horror-Haus“, in dem Carrie mit ihrer Mutter lebt, gibt es sogar eine Art Bußraum mit dem gekreuzigten Jesus, in dem das Mädchen, wenn es nicht gehorsam war, eingesperrt wird.
Der dritte reale Horror ist das soziale Umfeld. Carrie ist Schülerin in einer Mädchenschule, in der es einen ständigen Konkurrenzkampf der Mädchen gibt. Sie ist in diesem Kampf natürlich unterlegen, da sie von ihrer Mutter kein Wissen und keine Mittel in der Erziehung bekommen hat, um in diesem Umfeld zu bestehen. So ist Carrie in der Schule isoliert und lebt ein einsames Leben. Eines Tages passiert dazu noch eine extrem beschämende Situation: Carrie bekommt im Turnunterricht unter der Dusche mit sechzehn Jahren völlig verspätet, was auch psychologische Gründe haben kann, ihre erste Periode und hat keine Ahnung, was das für ein körperlicher Vorgang ist. Sie glaubt, krank zu sein, und gerät in Panik. Dazu kommt noch das Ausgeliefert-Sein an die anderen, die sich über sie in dieser intimen Situation lustig machen.
Carrie behält sich trotz der schwierigen Umstände ihres Aufwachsens ein empfindsames und offenes Wesen, das auch Klarheit im Empfinden und Denken besitzt. Sie ist ein Beispiel dafür, dass auch ein „furchtbares“ Umfeld ein Kind nicht brechen muss.
Allerdings ändert Stephen King dann die Ausrichtung seines Romans und durch eine weitere öffentliche ungeheure Blamage, die Carrie zugefügt wird, ändert sich das Wesen des Mädchens und sie entwickelt sich zu einer grausamen Rächerin und Mörderin. Hier beginnt der klassische und durchaus mit trivialen Horror-Elementen versetzte Teil des Romans, der weniger interessant ist. Dieser wird besonders in beiden Verfilmungen, die bekannteste ist „Carrie - Des Satans jüngste Tochter“ aus dem Jahr 1976 unter der Regie von Brian de Palma, die zweite ist die 2013 erschienene Neuverfilmung „Carrie“ der Regisseurin Kimberly Peirce, ausgebaut und auf die Spitze getrieben, um aus dem Roman auch einen wirklichen Grusel-Schocker zu machen, damit Horror-Film-Fans auf ihre Kosten kommen. Er wirkt aber gegenüber dem ersten psychologischen Teil des Romans eher aufgesetzt, obwohl Stephen King im Roman mit Ausschnitten aus wissenschaftlichen Schriften, das Phänomen der Telekinese, der Fähigkeit, die Carrie besitzt, nicht einfach so im Raum stehen lässt. Man kann es sogar so deuten, dass diese Fähigkeit auf die traumatischen Verletzungen zurückgeht, die Carrie ständig zugefügt werden. Das Ende ist aber trotzdem dem Trivial-Grusel-Genre zuzuteilen.
Stephen King hätte so gesehen gar keine Horror-Elemente in den Roman einbauen müssen, denn der Horror spielt sich in der Realität, im Leben eines jungen Menschen mitten unter allen anderen ab. Und diesen Horror finden wir tagtäglich in unseren Realitäten, manchmal verborgen, manchmal offensichtlich. Die wahren Monster sind nicht Teufel, Vampire, Hexen oder andere Horror-Wesen, diese sind nur die mythifizierten Archetypen realer Personen um uns. Mütter, Väter, Brüder und Schwestern, Mitschüler, man kann die Reihe unendlich weiterführen. Der wahre Horror ist mitten unter uns und passiert tagtäglich, und wie bei Horrorfilmen halten wir uns auch hier häufig die Augen zu und schauen weg.