Paul Celans Gedicht „Abend der Worte“ - lyrische Traumatherapie

Das wohl bekannteste Gedicht von Paul Celan ist die „Todesfuge“, ein Versuch, den Schrecken des Holocaust in die Form eines Gedichtes zu gießen. Dass dies ein gewagtes Unterfangen ist, zeigt die Kontroverse, die von Theodor W. Adorno ausgelöst wurde, der unter anderem die viel zitierte Aussage machte: "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch."

 

Was Adorno damit meinte, wurde häufig diskutiert und dieser hat diese Aussage auch später wieder zurückgenommen und abgeändert. Adorno wollte die Unmöglichkeit zum Ausdruck bringen, dass es so etwas wie eine deutsche bzw. überhaupt gesellschaftliche Kulturleistung überhaupt geben könnte. Darüber hinaus hat Adorno eine wichtige Frage aufgeworfen, nämlich ob es berechtigt sei, einen derartigen Schrecken und ein derartiges Grauen, wie es der Holocaust hervorgebracht hat, mit den ästhetischen Mitteln der Literatur und hier besonders der Lyrik zu beschreiben. Ist es den Opfern des Holocaust gegenüber nicht respektlos und absolut unangemessen, ein Gedicht über ihre Leiden zu verfassen. Kann ein solches Geschehen überhaupt mit Worten zum Ausdruck gebracht werden oder nimmt jeder Versuch der lyrischen Darstellung dem Grauen das wahre Ausmaß und reduziert es?

 

Ich denke, wenn man es jemandem zutrauen und zugestehen kann, diese Leistung zu vollbringen, dann wohl einem Betroffenen selbst. Und Paul Celan ist ein Betroffener dieses Leids. Und dass die Ästhetik eines Gedichts dem Schrecken und dem Leid gerecht werden kann, zeigt sich in seinen Gedichten.

 

Wobei ich sagen muss, dass die berühmte „Todesfuge“ nicht mein Lieblingsgedicht ist, sondern ein viel kürzeres und unspektakuläreres Werk, nämlich „Abend der Worte“. 

 

Dieses Gedicht ist deshalb so bemerkenswert, weil es nicht nur historisch-biografisch gedeutet werden kann, sondern überhaupt eine allgemeingültig psychologische Wahrheit besitzt. Es ist die lyrische verschlüsselt-hermetische Darstellung eines klassischen Traumas.

 

Schon der Titel des Gedichts ist eine Metapher von bemerkenswerter Intensität. „Der Abend der Worte“ ist die Vorstufe zur im Gedicht vorkommenden „Wortnacht“, welche die völlige Unfähigkeit zu sprechen zum Ausdruck bringt. Es gibt etwas, was nicht in Worte zu fassen ist, weil es sich in die Tiefen der Seele zurückgezogen hat und dort für den Menschen nicht mehr intellektuell erfassbar ist. Aber es existiert und durchbricht eines Tages die vielen Schichten, unter denen es verborgen ist. 

 

Celans „Rutengänger im Stillen“ hat sich auf den Weg gemacht. Wodurch, erfahren wir nicht. Aber dessen „Spur“ lässt sich nicht mehr verstecken. Gleichzeitig bricht „die Narbe der Zeit“ auf „und setzt das Land unter Blut“. Wir müssen erkennen, dass die Zeit keineswegs alle Wunden heilt, sondern eine Narbe gebildet hat, die jederzeit aufbrechen kann. Alle Versuche, die Vergangenheit unter Verschluss zu halten, scheitern irgendwann.

 

Schließlich melden sich auch noch die „Doggen der Wortnacht“ im lyrischen Du, „mitten in dir“ und „feiern“ ihren neuen „Hunger“ und „ Durst“. Nun ist es vorbei mit der Stille, in der sich der Rutengänger noch zuvor bewegt hat. Ein massiver Aufruhr hat eingesetzt und lässt sich nicht bändigen. 

 

Schließlich erbarmt sich „ein letzter Mond“ und „springt“ dem lyrischen Du „bei“. Eine ungewöhnliche Wortwahl. Der Mond als Helfer, aber es ist ein „letzter Mond“. Er versucht die tobende „Meute“ mit einem „Knochen“ zu besänftigen. Der „Knochen“ ist „nackt“, wie „der Weg, den du kamst“. Aber der Knochen ist zu wenig für die ausgehungerten Tiere, er enthält keine Substanz, die zur Beruhigung führen könnte.

 

Schließlich kommt es zum zentralen Vers des Gedichtes: „doch rettets dich nicht“. Dieser Vers ist eine kalte Ernüchterung in dieser wilden Bewegung, die vielleicht noch zu einem guten Ende hätte führen können. Der Vers steht schmucklos da, in seiner brutalen Klarheit. Daran gibt es nichts zu rütteln, das wird unmissverständlich klar gemacht. Der „geweckte Strahl“ kann nicht mehr zurückgedrängt beziehungsweise ungeschehen gemacht werde.

E schwemmt „[…] eine Frucht, in die du vor Jahren gebissen“ hast an die Oberfläche.

 

Paul Celan konnte der Versuch, sein Trauma an die Oberfläche zu bringen, nicht retten. Vielleicht ist es auch manchmal besser, den „Rutengänger“ nicht auf die Suche zu schicken, die „Spur“ nicht aufzunehmen, sondern sie im Dunkeln zu lassen. Wenn etwas losgetreten wird, kann es manchmal nicht mehr gestoppt werden.

Die „Narben“ können im Laufe der Zeit verkrusten und ihre Schmerzhaftigkeit verlieren. Sie müssen nicht wieder aufgerissen werden, sie können ein Zeichen sein, dass etwas Schlimmes geschehen ist, dass eine Verletzung stattgefunden hat, aber auch ein Zeichen dafür, dass etwas Schlimmes überwunden werden konnte und dass „die Zeit“ ein Leben erhalten hat und es einen Sinn macht, dieses Leben weiterzuführen. Die „Narben“ sind nicht eine Erinnerung an die Verletzung und den Schmerz, sondern die Erinnerung an den Sieg, der über den Schmerz errungen wurden.

 

Tragen wir unsere Narben mit Stolz und erinnern wir uns an die Kraft, die in uns steckt, welche die Wunde zur Heilung brachte.