Franz Kafkas Parabel "Gib's auf" oder "Wenn alle menschlichen Orientierungspunkte ins Wanken geraten"

Franz Kafkas Parabel „Gibs auf“ oder „Wenn alle menschlichen Orientierungspunkte ins Wanken geraten“

 

Franz Kafkas kurzer Text „Gibs auf“ erscheint aufs erste Lesen fast banal und wenig aussagekräftig. Doch wie immer bei Kafka, erschließt sich die Genialität des Textes bei näherer Betrachtung. Der Ich-Erzähler befindet sich auf dem Weg zum Bahnhof, es ist „früh am Morgen“ und die Straßen sind „rein und leer“. Das Wort „rein“ wirkt in diesem Zusammenhang ungewöhnlich und lässt den Lesenden bereits ein wenig aufhorchen. Der Vergleich der „Turmuhr“ mit der eigenen Uhr jagt dem Ich-Erzähler einen „Schrecken“ ein und der Lesende vermutet, dass es darum geht einen Zug oder eine Reisgelegenheit zu erwischen. Die Entdeckung, dass „es viel später“ ist, als der Ich-Erzähler glaubt, lässt diesen jetzt auch „im Weg unsicher werden“. In der Stadt, die ihm fast unbekannt ist, wendet er sich schließlich an einen „Schutzmann“, der ihm den Weg sagen soll. Dieser jedoch macht sich über die Naivität des Mannes lustig, da er von ihm einen Weg erklärt haben will, denn dieser „selbst nicht finden kann.“ Schließlich rät er dem Ich -Erzähler, er solle aufgeben und wendet sich ab, wie jemand „der mit [seinem] Lachen allein sein“ will.

Insofern gibt uns dieser einfache kurze Text doch viele Rätsel auf. Ein einfacher Gang zum Bahnhof wird zu einer existenzbedrohenden Situation für den Ich-Erzähler. Die menschlichen Orientierungselemente Raum und Zeit geraten ins Wanken und schließlich kann auch eine von Berufs wegen zur Hilfe ausgebildete Person, dessen Bezeichnung „Schutzmann“ darauf hindeutet, dass er zum Schutz der Menschen da ist, nicht helfen, sondern rät der Person, aufzugeben, und macht sich über sie lustig.

Somit erweist sich dieses kleine Textstück als Parabel für die Suche nach dem Sinn des menschlichen Lebens und zeigt die Illusion, welcher der Mensch erliegt, wenn er glaubt, dass Raum und Zeit eine Orientierung bieten und es einen anderen Menschen geben könne, der ihm sagte, wohin sein Weg führt.

Die Zeit, die wir für wahr halten und die uns zeigt, in welcher Phase unseres Lebens wir uns befinden, ist schwankend und irreal. Der Raum, der uns Halt gibt und uns vorgibt, wo wir uns befinden, ist eine Illusion. Die Menschen um uns, an die wir uns wenden und denen wir vertrauen, dass sie uns beistehen können, haben genauso wenig Ahnung wie wir selbst.

 

Alles um uns ist relativ und wir wissen nicht, auf welchem Weg wir uns wirklich befinden. Ein schwer erträglicher Gedanke, den wir gerne beiseite lassen möchten, oder vielleicht doch ein Trost, dass alles, wogegen wir mit aller Macht kämpfen, gegen die Vergänglichkeit, gegen die Heimatlosigkeit, ein Kampf ist, den wir nicht führen müssen, denn wir werden ihn verlieren. Letztendlich ist alles ewig und wir befinden uns immer am selben Ort. Nichts kann für uns verloren gehen.