Das Schweigen der Sirenen – eine Absage an die Kraft weiblicher Verführung

Liest man Kafkas Kurztext, stellt sich einem zuerst ganz zentral die Frage: Wieso hat der Autor den Mythos abgeändert und lässt Odysseus sich selbst die Ohren verstopfen und nicht seinen Kameraden. Er scheint somit gar nicht am Gesang der Sirenen interessiert zu sein, was im übertragenen Sinn heißt, dass er auch an der Verführung durch die Frauen gar nicht interessiert ist. Er verweigert sich den weiblichen Verführungskräften und möchte den Sirenen zeigen, dass sie gar keine Chance haben, an ihn heranzukommen. Der Kampf der Geschlechter ist von vornherein eingestellt, Odysseus freut sich nicht mehr darüber, der Kraft der weiblichen Verführung durch List zu entkommen, er stellt sich nicht dem Weiblichen und hat auch keine Freude mehr dagegen anzukämpfen. „Die Leidenschaft der Verführten“ ist für ihn keine Option mehr. Nicht einmal mehr der Wunsch, den Kampf zu gewinnen und damit zu riskieren, dass die Sirenen nicht mehr singen und die weibliche Verführungskraft damit besiegt wird, („Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht“.) scheint für ihn einen Wert zu haben.

Odysseus ist der Mann, der nicht einmal mehr auf die Vernichtung der Weiblichkeit aus ist, sondern den die Weiblichkeit gar nicht mehr interessiert. Die Sirenen versuchen noch mit allerletzter Kraft alle ihre Künste spielen zu lassen, sie versuchen mit allem, was ihnen gegeben ist, Odysseus zu treffen und müssen erkennen, dass es keine Chance mehr für sie gibt. Gerade als er ihnen ganz nahe kommt, verschwinden sie total aus seinem Gesichtsfeld. („…die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.“)

Letztendlich erkennen sie ihre Niederlage und statt des Wunsches zu siegen, wollen sie nur mehr einen letzten Blick auf den letzten Mann werfen, im Bewusstsein, dass sein Verschwinden auch das Ende des uralten Kampfes zwischen den Geschlechtern bedeutet und das grausame, aber wunderbare Spiel zwischen Mann und Frau zuende gegangen ist. „Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.“

 

Aber Kafka lässt uns wenigstens noch den Mythos und spricht den Sirenen ein Bewusstsein ab, um sie wenigstens noch als mythologische Figuren in alten Texten existieren zu lassen, auch wenn sie in der Realität verschwunden sind.

Im Nachsatz geht der Autor so weit, dass er die Möglichkeit ins Auge fasst, dass Odysseus die Götter getäuscht hätte und sich durch sein Frei-Machen von jeder Leidenschaft und dadurch auch Gebundenheit an diese, ihnen entzogen hätte. „Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.“

Franz Kafka führt uns in diesem Text eine Form der Männlichkeit vor Augen, die unabhängig geworden und an weiblicher Verführung nicht mehr interessiert ist. Letztendlich hat man Mitleid mit den Sirenen, die das Symbol der Gefährlichkeit des Weiblichen sind, die aber gleichzeitig auch die Kraft, die durch die Unterschiedlichkeit der Sexualität von Mann und Frau entsteht, zum Ausdruck bringen.

Vielleicht zeigt uns Franz Kafka auch das Ende der Kräfte der Natur, die dem Menschen gefährlich werden konnte, ihm aber auch die Möglichkeit gab, Abenteuer zu bestehen und sich selbst im Kampf zu beweisen. In der modernen Welt rudert kein Seemann mehr in einem Boot an den gefährlichen Klippen vorbei, sondern maschinenbetriebene, jeder Welle strotzende Schiffe kümmern sich nicht mehr um das, was die Natur vorgibt, aber es kann auch nicht mehr die raue Schönheit im Umgang mit der Natur gefühlt werden.

So wünschen wir uns manchmal den Mythos zurück, der einen Menschen zeigt, der mit erschütternder Leidenschaft den Kampf aufnimmt, der ihn siegen, aber manchmal auch verlieren lässt, der ihn in höchste Höhen hebt, aber manchmal auch zerstört. Aber das macht das Leben in seiner Eigenheit aus. Also sehen wir vor unseren Augen Odysseus, an den Mast gebunden, den wunderbaren Verführungslauten der Sirenen ausgesetzt, wir sehen, wie er leidet, aber durch seine List dem Tod entgeht. Er nimmt den Kampf auf, sich dem weiblichen Element zu stellen, aber nicht dadurch zerstört zu werden und gewinnt dadurch ein Gefühl, das zu den höchsten im menschlichen Leben gehört und den Menschen ausmacht. („Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.“)