Marlen Haushofer: Die Wand - Die Zivilisation (das männliche Prinzip) als Störfaktor der weiblichen Identität

Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ ist eine schonungslose Abrechnung mit der Zivilisation, die hier dem Männlichen zugeordnet wird. Die Errungenschaften des Menschen, die sich damit beschäftigen, das Leben für den Menschen erträglich und weniger hart zu machen, wenden sich in letzter Konsequenz gegen die Natur und gegen das weibliche Prinzip. Der Mann hat sich die Natur in brutaler Weise angeeignet, indem er sie als Objekt für seine Macht sieht und sie zerstört, anstatt sich mit ihren Gegebenheiten und ihrem Sein zu verbinden. Natur wird bei Marlen Haushofer gleichgesetzt mit dem weiblichen Element. Natur und Frau sind eine Einheit, die durch die Zivilisation und den Mann ge- und zerstört werden. Die Zerstörung ist keine auf den ersten Blick sichtbare, sondern eine, die das Innere und Prinzipielle angreift.

 

Am Anfang des Romans finden wir eine Frau, die mit Bekannten zu einer Hütte im Wald fährt und dort allein zurückbleibt, da die Bekannten kurz zurück in die Stadt fahren, um einige Besorgungen zu machen. Doch zu einer Rückkehr der beiden kommt es nicht mehr und die Welt der Frau ändert sich von einem Augenblick zum anderen in ihren Grundfesten. Bei einem Spaziergang mit dem Hund der Bekannten stößt die Frau plötzlich auf ein Hindernis, welches sich unsichtbar zwischen ihre und die andere Welt geschoben hat. Es handelt sich um eine undurchdringbare Wand, die sie von allen Seiten umgibt und von dem Rest der Welt abschließt.

 

Nach dem ersten Schock über die unerklärbare Situation versucht die Frau sich zu orientieren. Sie erforscht allmählich die Grenzen näher und beginnt langsam von Tag zu Tag sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Sie muss erkennen, dass es in ihrer neuen Welt keinen Menschen außer ihr gibt und anscheinend sind auch die Menschen außerhalb der „Wand“ mitten in ihrer Bewegungen erstarrt, wie sie an einem alten Ehepaar erkennen kann, das sie jenseits der durchsichtigen Wand sieht.

 

Anstelle von Menschen bleiben der Frau einige tierische Lebewesen wie ein Hund, eine Katze und eine Kuh, welche die Funktion von Partnern in dieser einsamen harten Lebensrealität der Natur bekommen. Besonders der Hund „Lux“ wird zur wichtigen und einzigen wirklichen Bezugsperson. Die Frau, die erkennen muss, dass es keine andere Realität mehr gibt als die von der gläsernen Wand eingegrenzte, nimmt nach anfänglicher Verzweiflung das Leben in der Natur auf. Dieses zeigt sich bald in seiner vollständigen Härte. Die einfachen, lebensnotwendigen Bedürfnisse müssen durch harte Arbeit erfüllt werden. Lebensmittel müssen angebaut werden, die zugelaufene Kuh muss versorgt, gemolken und vor allem gefüttert werden, das bedeutet Heuernte. Der Bedarf an Eiweiß muss gedeckt, also Wild muss erlegt werden, eine Tatsache, die der Frau am meisten Schwierigkeiten bereitet.

Der andere Punkt ist der Mangel an menschlicher Kommunikation, besonders durch den Mangel an Sprache. Die Tiere können einen Teil der Kommunikation abdecken, aber sprachliche Auseinandersetzung ist nicht möglich. Diese macht allerdings zu einem großen Teil den Menschen aus und die Frau schreibt täglich auf altem Papier ihre Gedanken nieder, auch um den Halt der Zeit, der in der Zivilisation durch das Zählen von Stunden, Tagen, Wochen und Jahren sich ausdrückt, nicht zu verlieren. Die Natur hingegen kennt nur Jahreszeiten, von denen das Leben abhängt und die eine grausame, aber in gewisser Weise auch einfache Realität vorgeben. Langsam passt sich die Frau immer mehr der Natur an und verschmilzt mit ihr. Es kommen Phasen der Depression und Einsamkeit, auch der Erschöpfung durch die Härte des Lebens mit der Natur, aber letztendlich macht die Frau weiter und schafft es, zu überleben.

 

Mitten in diese Welt platzt eines Tages plötzlich ein unbekannter Mann, der mit einer Hacke das Kalb, das inzwischen geboren wurde, erschlägt und schließlich auch den Hund Lux, das Zwischenwesen, die Verbindung zur Zivilisation. Ein Einbruch der Gewalt findet statt, der sofort darauf gerichtet ist, etwas zu töten und zu zerstören. Die Frau versucht ihre Welt zu retten und erschießt den Unbekannten. Er bleibt ohne Gesicht und ohne Persönlichkeit. Für den Hund Lux und das Kalb ist es zu spät und die Frau bleibt mit der Kuh zurück.

Allmählich endet auch das Schreibmaterial und somit gibt es keine Möglichkeit mehr, sich in Sprache auszudrücken. Die Frau und die Natur werden langsam eins und kehren in den ursprünglichen Zustand, in dem keine Zivilisation und kein Mann mehr eingreifen, zurück.

 

Marlen Haushofers Roman wird oft als weibliche Robinsonade bezeichnet, aber die entscheidende Frage ist, ob es sich um einen feministischen Roman handelt.

Der Roman stammt noch aus einer Zeit, in der Frauen sich von der Dominanz der Männer im Privaten, aber auch in der Berufswelt und in der Kunst befreien wollten. Es wurde auch zu radikalen Mitteln gegriffen, die aus heutiger Sicht vielleicht manchmal übertrieben erscheinen. Aber die Befreiung benötigte eine enorme Kraft, und ich denke, auch wenn manche es nicht wahrhaben wollen, die Befreiung ist noch lange nicht abgeschlossen und es ist ein extrem fragiles Gebilde, das jederzeit durch Kleinigkeiten kippen kann. 

Marlen Haushofer „idyllisiert“ die Natur keineswegs, sondern stellt eine enorm harte Realität dar, welche ohne die menschliche Zivilisation herrschen würde. Sie idealisiert keineswegs die Bedingungen der Frau ohne die Zivilisation, das männliche Prinzip. Aber die Frau ist in der Lage auch ohne allem eigenständig zu überleben. Das mag natürlich übertrieben klingen und auch, wie viele sagen würden, keineswegs wünschenswert. Um weibliche Identität leben zu lassen, müsse man nicht gleich das ganze männliche Prinzip auslöschen. Wenn man Marlen Haushofers Biografie heranzieht, ergibt sich ein noch klareres Verständnis der dargestellten Realität. Marlen Haushofer war eine „normale“ Hausfrau, Arztgattin, Ehefrau und Mutter. Sie beklagt häufig den fehlenden Platz zum Schreiben. Dieser Platz ist ganz realistisch und nicht nur metaphorisch gemeint, denn sie hatte keinen eigenen Raum, geschweige denn einen eigenen Schreibtisch im Haus, an dem sie arbeiten konnte. Alle Räume hatten eine Funktion im Familiengefüge. Ihr Schreiben wurde von den Familienmitgliedern und schließlich auch infolgedessen von ihr selbst als nicht so wichtig erachtet, sodass es einen Raum gefunden hätte. Insofern scheint die im Roman existierende gläserne „Wand“ eine zwar brutale, aber notwendige Abgrenzung der Frau, um ihre Identität wahren zu können. Die weibliche Identität, die Natur, ist durch das männliche Prinzip, hier auch in Form der Zivilisation von ständiger Störung, Zerstörung bis hin zur Vernichtung bedroht. Um die weibliche Identität zu wahren, muss eine radikale gläserne „Wand“ existieren, hinter der eine harte und von keiner zivilisatorischen Hilfe abgemilderte Existenz besteht, die allerdings der Frau allein gehört und in der sie trotz aller Mühen existieren kann. 

 

Insofern finde ich Marlen Haushofers Roman als einen der besten und berührendsten Romane zum Thema weibliche Identität. Es gibt in diesem Roman nicht die üblichen Geschlechterkämpfe, wie sie bei anderen Autorinnen dieser Zeit zu finden sind. Der Roman ist leise, besitzt aber eine enorme Wahrheit, die bis in die heutige Zeit existent ist und es wohl immer sein wird.