Die Theorie des Kriminalromans – Dürrenmatts „Versprechen“
Friedrich Dürrenmatt widmete sich dem Kriminalroman nicht aus eigenem Antrieb, sondern er bekam den Rat, einen Krimi zu schreiben, um Geld zu verdienen, da er unter einer schweren Diabetes-Erkrankung litt. Ich möchte mich in diesem Artikel dem Roman „Das Versprechen“ widmen, da dieser für mich aus kriminaltechnischer Sicht der interessanteste der drei „Dürrenmatt-Krimis“ ist. Außerdem gibt es zwei Filmversionen: „Es geschah am helllichten Tag“ (1958) und „The Pledge“ (2001), wobei die Version „Es geschah am helllichten Tag“ (1958) vor dem Roman zustande kam. Dürrenmatt wurde gebeten, anlässlich einer Kindermord-Serie in der Schweiz eine Art Aufklärungsfilm für Eltern und Kinder zu schreiben. In der Zeit, in der Themen wie Kindesmissbrauch gesellschaftlich tabuisiert waren, wagte der Film eine offene Auseinandersetzung damit. Der Film ist noch in alter Schwarz-Weiß-Technik gedreht und bedient sich der filmischen Mittel, die für die damalige Art und Weise, einen Krimi zu drehen, typisch sind. Der Film hat eine durchgehende Musik-Dramaturgie, die ein Leitthema beinhaltet, das immer dann erscheint, wenn das Mädchen (der Lockvogel) ins Bild kommt, und die typischen spannungssteigernden Klangeffekte, die die Zusehenden äußerst plakativ darauf hinweisen, dass bald etwas Schlimmes passieren wird. Schon allein deshalb ist der Film sehenswert. Dazu kommt noch die Darstellung der Hauptfigur (Kommissar Dr. Matthäi) durch den damals extrem bekannten Schauspieler Heinz Rühmann, der sogar ein eigenes Genre – die sog. Rühmann-Filme – begründet hat. Den bösen Täter spielt Gerd Fröbe, der später als „James-Bond-Bösewicht“ internationale Bekanntheit erlangte. Also auch die Besetzung macht den Film sehenswert.
Der Krimi, den Dürrenmatt nach dem Drehbuch schrieb, ist zwar ein typischer deutscher Krimi dieser Zeit und kann meines Erachtens mit den großen englisch-sprachigen Krimis nicht mithalten (man merkt die lange Tradition des Krimis im englisch-sprachigen Raum), aber er enthält für die damalige Zeit interessante Details und sehr moderne Aspekte. So findet sich in der Handlung ein sehr modernes Profiling: Der Ermittler Dr. Matthäi verwendet eine Zeichnung des ermordeten Kindes und leitet daraus kriminalistische Hinweise ab. Er deutet die Zeichnung nach psychologischen Aspekten. Der gezeichnete Riese gibt den Hinweis auf die Größe des realen Täters, der Steinbock, der aussieht wie ein Käfer, weist auf das Wappen im Autokennzeichen (Graubünden) hin und die kleinen Igel, die der große Mann dem kleinen Mädchen gibt, werden als Schokolade-Trüffel identifiziert. Diese Hinweise aus der Zeichnung verwendet Dr. Matthäi für die weitere Vorgangsweise. Er mietet eine Tankstelle, um die Autokennzeichen zu prüfen, und letztendlich hat er die zweifelsohne unmoralische Idee, eine Haushälterin einzustellen, die ein Kind hat, das dem ermordeten ähnlich sieht. Er zieht das Kind so an, wie das ermordete Kind gekleidet war und lässt es vor der Tankstelle am Straßenrand spielen, um den Täter anzulocken. Dürrenmatt verwendet also hier bereits die Serien-Täter-Theorie viel späterer Jahre, dass ein Serientäter immer wieder auf dasselbe Schema anspricht. Es wird auch bereits versucht, eine psychologische Erklärung für Pädophilie zu geben. Der Täter lebt in einer lieblosen Ehe mit einer älteren Frau, die auch seine Chefin ist und ihn emotional und sexuell unterdrückt. Der Täter muss seine Aggressionen, die durch die Behandlung durch seine Ehefrau entstehen, unterdrücken und scheint auch zu keiner erwachsenen Sexualität fähig. Diese Theorie enthält viele wahre Aspekte heutiger psychologischer Erkenntnisse über pädophile Täter.
Eine interessante Wendung, die sich von dem Ende des Filmes unterscheidet, ist die Gestaltung der Auflösung am Ende des Textes. Während der Film ein klassisches Krimi-Ende aufweist, indem der Täter gefasst wird und sich die Indizien Sherlock-Holmes-artig als richtig erweisen, nimmt die Handlung im Text eine ganz „eigene“ Wendung, in der Dürrenmatt seine Dramen-Theorie einarbeitet, dass das Schicksal immer die schlimmstmögliche Wendung nimmt (Dramentheorie) und diejenigen, die sich am meisten vorbereiten, am härtesten getroffen werden. („Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst mögliche Wendung genommen hat.“ „Je planmäßiger Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.“) Dr. Matthäis Theorien erweisen sich alle als richtig, allerdings kann er den Fall trotzdem nicht lösen, da der Täter vor seiner Ergreifung einen tödlichen Unfall hat, bevor er erneut zuschlagen kann. Dr. Matthäi, der von seiner Theorie nicht ablassen kann (sie ist ja auch richtig), wartet Jahr um Jahr an der Tankstelle, bis er wahnsinnig wird. Wir haben es hier mit einer ausgefeilten, komplexen Wendung zu tun, die für einen Kriminalroman höchst ungewöhnlich ist und normalerweise erst in der modernen Krimitheorie vorkommt. Dr. Matthäi kann auch in die Gruppe der gebrochenen Detektive eingeordnet werden, wie sie in modernen Kriminalromanen vorkommen: Der Ermittler zerbricht an seinem Fall.
Der Roman weist auch eine sehr interessante Rahmenhandlung auf. Ein Kriminal-Autor fährt mit dem Auto zu einem Kongress über das Schreiben von Kriminalromanen. Er nimmt einen pensionierten Kommissar der Schweizer Polizei als Autostopper mit und die beiden beginnen eine Diskussion über den Krimi. Der Kommissar tadelt die Struktur der Krimis, wie sie seit Arthur Conan Doyles „Sherlock-Figur“ in Erscheinung tritt. Es werden Indizien gesammelt, dann erschafft der Ermittler durch Deduktion und Intuition ein Täter-Profil und nach dieser Vorgabe wird der Täter gefasst. Die Realität der Kriminalistik sehe ganz anders aus, meint der Kommissär. Eine solche Klarheit der Ermittlung gäbe es nicht und letztendlich spiele bei der Ergreifung des Täters immer auch der Zufall eine große Rolle. Man müsse auch das Agieren der Menschen und ihre Fehler bedenken, sowie Irrwege, die immer wieder gegangen würden. Also geschriebene Krimis hätten mit der Realität nichts zu tun.
In diesem Sinne ist der etwas „hölzerne“ Krimi eines Friedrich Dürrenmatt doch ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte des deutsch-sprachigen Kriminalromans. Dürrenmatt macht aus dem im deutschsprachigen Raum noch immer mit dem Manko der trivialen Unterhaltungsliteratur verhafteten Kriminalroman ein literarisches Meisterstück, das über das Genre weit hinausgeht. Man beachte in diesem Zusammenhang die Zeit, in welcher der Roman geschrieben wurde, und vergleiche ihn nicht mit der heutigen Flut an Krimis, da dieses Genre eines der meistgeschriebenen und meistverkauften wurde, und einige davon wirklich Meisterwerke der Literatur geworden sind.
Gerade Dürrenmatts „Versprechen“ wurde mehrmals verfilmt, darunter „The Pledge“ von Sean Penn. Hier wird die Krimi-Handlung in die USA transferiert mit fast mythischen Landschaftsaufnahmen aus der Luftperspektive, „trance-stiftender“ Musik und sehr langsamer Schnitt-Technik. Der Film ist passagenweise etwas langatmig, aber gerade dadurch auch äußerst atmosphärisch. Sean Penn macht aus der Krimihandlung einen „Pensions-Schock“-Film. Aus dem nach Jordanien(!) abkommandierten Dr. Matthäi wird der „Neo-Pensionist“ Jerry (gespielt von Jack Nicholson! – hier in einer für ihn sehr ungewöhnlichen Rolle: still und diffizil in der Darstellung der Figur), der von dem Kinder-Mord-Fall an seinem letzten Arbeitstag erfährt. Er erlebt noch die letzten Ermittlungen, die aus seiner Sicht völlig falsch laufen, sodass er die Berufung verspürt, im Ruhestand weiter an dem Fall zu arbeiten. Jerry beginnt mit den Ermittlungen und ab diesem Zeitpunkt hält sich das Geschehen des Films ziemlich genau an das Buch. Allerdings gibt es eine Neu-Auslegung der Figurenzeichnung. Jerry arbeitet sich in den Fall ein, da er ein Problem hat, nach seinem Beruf als Polizist eine Beschäftigung in der Pension zu finden. Nach ein paar Versuchen, seine neu gewonnene Freizeit zu füllen, z. B. durch den ihm von den Kollegen geschenkten Angelurlaub, beginnt er auf eigne Faust zu ermitteln. Er wird von seiner Obsession zunehmend vereinnahmt und führt de facto seinen Beruf als Privatperson weiter und verstrickt sich immer mehr in den Fall. Auch die Frauenperson erfährt eine Umdeutung: Aus der Haushälterin wird eine neue Lebensgefährtin, die viel jünger ist und mit ihrem Kind von ihrem gewaltbereiten Ehemann zu Jerry flieht und bei ihm einzieht. Die Verwendung des Kindes als Lockvogel wird ebenfalls übernommen und Jerry setzt damit seine neue Beziehung aufs Spiel. Er holt noch einmal seine früheren Polizeikollegen zu einem Einsatz, bei dem er sicher ist, dass der Täter geschnappt werden kann, der aber aus besagten Gründen (der Täter verunfallt mit seinem Auto) im Nichts verläuft. Er wird von seinen Kollegen wie ein alter, seniler Mann behandelt. Auch seine neue Liebe lässt ihn im Stich, nachdem sie erkennen muss, dass ihr Kind von Jerry für die Ermittlungen verwendet wurde. Jerry bleibt einsam und gebrochen auf der Tankstelle zurück und verfällt immer mehr dem Alkohol und dem Wahnsinn. Er wartet jeden Tag auf den Täter, der laut seiner Theorie vorbeikommen muss und auch gekommen wäre, wenn nicht der Zufall es verhindert hätte.
Friedrich Dürrenmatts „Versprechen“ ist in diesem Sinne mehr als ein Kriminalroman, es ist ein literarisches Experiment, welches besonders durch die Einbindung der Thesen seiner Dramentheorie den deutsch-sprachigen Kriminalroman zu einem Kunstwerk macht, das über seine Zeit hinaus nachwirkt.