In der Stadt und unter der Stadt - ein Sommer mit Stephen Kings „Es“


„Fährst du auch diesmal wieder nicht auf Urlaub?“, war die übliche Frage, die mir immer am Ende eines Schuljahres gestellt wird.  Nein, auch diesmal war ich nicht fort und habe die Grenzen der Stadt nicht überschritten. Aber ich war unter der Stadt. Ich habe mich in die dunklen Kanäle und schmutzigen Abwässer begeben, ich habe dem Grauen ins Auge gesehen. „Es“ hat mich gepackt und zwar ordentlich.

Es begann bereits in den letzten 3 Wochen des Unterrichtsjahres und es dauerte bis tief in den August. Während die Sonne auf den Asphalt und die Mauern in der oberen Welt brannte und uns einen der heißesten Sommer aller Zeiten bescherte, während alle unter der Hitze stöhnten und aus der Stadt drängten, begab ich mich hinunter in die schwarzen Röhren, in die schlammigen Pfützen zu den lichtscheuen Wesen. „Es“ zog mich in seinen Bann und ließ mich nicht mehr los und ich folgte gebannt und von Angst getrieben dem Weg, den der „King“ mir vorgab.

Schon einige Male hat er mich mitgenommen in düstere Gefilde und immer wieder folge ich seinem Ruf, wenn der Sommer mich von der Welt abzieht.

 

Was oder wer ist nun dieses „Es“, das in Stephen Kings Roman eine Serie von toten Kindern hinterlässt? Und was will der King uns eigentlich sagen?

 

Dem Horror-Roman bzw. Horror-Film haftet in literarischen Kreisen immer noch der Makel des Trivialen an. Wird der Krimi nun endlich auch in der deutschen Literatur als hochwertig anerkannt und hat es sogar in die Schulbücher geschafft, so bleibt dem Horror dieser Aufstieg noch immer verwehrt und er existiert lediglich in einer kleinen Randnotiz als „Schwarze Romantik“, wobei auch hier darauf hingewiesen wird, dass der Unterhaltungswert im Vordergrund steht und nicht die Qualität.

 

Auch ich habe dem Horror lange Zeit keine wirkliche Bedeutung beigemessen, ja ich mochte ihn nicht einmal, da ich keinen Sinn darin sah, mich künstlich in das Reich der Angst zu begeben, da mir doch schon die reale Angst in meinem Leben genug war.

 

Aber irgendwann packte mich die Faszination am Bösen und Übersinnlichen, zuerst besonders in der Figur des Grafen, der in Transsilvanien sein Unwesen treibt und Frauen, besonders den lasziven, den Garaus macht.

 

Dann traf ich auf den kopflosen Reiter in Sleepy Hollow im gleichnamigen Film von Tim Burton und schließlich traf ich auf den King, den ich natürlich schon vorher dem Namen nach kannte, aber als uninteressant erachtete. Aber wie manchmal in Liebesbeziehungen erweist sich jemand erst auf den zweiten Blick als der Richtige. Und so begann meine Beziehung zu Stephen King spät, aber sie entwickelte sich in kurzer Zeit umso intensiver und sie scheint etwas auf Dauer zu sein.

 

Aber jetzt bin ich in meiner Schwärmerei angekommen von der wesentlichen Frage nach dem Wesen, das in der Kanalisation der Stadt Derry haust. Kinder sind immer in Gefahr. Obwohl wir ständig beschwören, wie heilig sie uns sind und dass sie das Schützenswerteste in unserer Gesellschaft sind, werden sie missbraucht, sind der Gewalt in physischer und psychischer Form ausgesetzt und werden sogar getötet, und das sogar von denen, die sie hervorgebracht haben und sie besonders schützen sollten.

 

Auch wenn immer wieder beteuert wird, wie sehr wir uns um ihr Wohl kümmern, ihre gesunde Entwicklung fördern und das Beste für sie tun, scheitern so viele kläglich an den einfachsten Dingen und lassen sie alleine, einer bösen Macht ausgesetzt, obwohl wir sie schützen müssten. Die Erwachsenen können „Es“  nicht sehen, sie erkennen nicht die Gefahr, in der sich die Heranwachsenden befinden, sie lassen sie alleine, bis „Es“ zuschlägt. Aber nicht einmal dann wird „Es“ erkannt, sondern das Wegsehen geht weiter und die Kinder werden dem Bösen Schicksal überlassen.

 

Es“ tritt den Kindern in verschiedenen Gestalten gegenüber. Entweder ist es der Clown Pennywise mit seinen spitzen Reißzähnen oder die überdimensionale Spinne in den Abwasserkanälen von Derry. In regelmäßigen Zeiträumen wird die Stadt heimgesucht, aber niemand von den Erwachsenen widmet sich wirklich dem Phänomen der wiederkehrenden  Katastrophen und Serien-Kinder-Morde. „Es „ bedient sich auch böser Menschen, in die „Es“ eindringt und durch die „Es“ mordet. Die Morde sind unbeschreiblich grausam: Den Kindern werden Gliedmaßen abgerissen, sie werden verstümmelt, sodass nur mehr Teile von ihnen übrig bleiben. Manchmal findet man nur eine Blutspur, die in die Abwässer-Kanäle führt. Die in Abständen sich ereignenden Katastrophen treffen die Stadt schwer, lassen die Bewohner aber schweigend zurück. Keiner will so wirklich über die Ereignisse sprechen. Es herrscht eine stille Lähmung über der Stadt, und das Böse scheint für alle Ewigkeit in der Derry seine Heimat gefunden zu haben.

 

Wer soll dem Schrecken ein Ende machen, dessen wahre Gestalt nicht gesehen und begriffen werden kann? Eine kleine Gruppe von Kindern, alle Außenseiter, die mit schweren Repressalien ihrer Umwelt zu kämpfen haben, erkennen, dass „Es“ gerade vor ihnen Angst zu haben scheint. Ihre Stärke ist ihr Außenseitertum, das sie zusammenschweißt und viel sensibler und gescheiter als andere Kinder macht. 6 Buben und ein Mädchen begeben sich in die Tiefen der schmutzigen Kanalisation, da auch die Welt an der Oberfläche für sie ein täglicher Kampf ist. Sie haben gelernt, dass sie nirgends sicher sind und die Gefahr überall lauert. Ein Jude, ein Schwarzer, ein Stotterer, ein Astma-Kranker, ein Überaktiver und ein übergewichtiger Junge, sowie ein Mädchen, das der Gewalt seines Vaters ausgeliefert ist, nehmen den Kampf gegen „Es“ auf. Gemeinsam ist ihnen allen, dass ihre Eltern ihnen nicht helfen können, teils weil sie überfordert sind, teils weil sie unsensibel oder einfach Erwachsene sind. Die Gefahr, in denen sich ihre Kinder befinden, ist ihnen nicht zugänglich. Sie sehen nicht die Schikanen und die Gewalt, denen ihre Kinder ausgeliefert sind.

 

Die Gruppe der Außenseiter erkennt, dass sie nur in der Gemeinschaft stark ist. Die Kinder können dem Bösen ziemlich zusetzen, aber sie sind nicht wirklich sicher, ob sie „Es“ wirklich besiegt haben. Sie schwören einander, falls das Böse sich wieder in Derry zeigt, in die Heimat zurückzukehren, wo immer sie sich auch befinden. Nur einer der 6 bleibt in der Stadt, während die anderen in die Welt hinausziehen. Heimlich hoffen alle, dass Sie den Schwur niemals einlösen müssen, aber eines Tages ist es dann doch so weit und aus Derry erfolgen sechs Anrufe, die die Betroffenen mitten aus ihrem Leben reißen. Für eine Person trifft diese Redewendung im wahrsten Sinne des Wortes zu. Die Angst vor einer Rückkehr und einer Konfrontation mit „Es“ ist so überdimensional, dass sie sich das Leben nimmt. Die anderen folgen dem Ruf und verlassen ihren Wohnort, ihren Beruf und ihre Lieben. Sie begeben sich auf eine Mission, Derry und somit auch die Welt vom Bösen zu befreien, denn sie wissen, dass sie die einzigen sind, die dies vielleicht können. Sie haben sich nämlich auch als Erwachsene etwas aus den Kindertagen bewahrt, nämlich „Es“ weiterhin zu sehen, was die anderen Erwachsenen verlernt haben.

 

Der Endkampf gegen „Es“ erfordert eine Rückkehr in die Kanalisation von Derry. Der Weg führt dahin, wo „Es“ lebt, in den Schlamm, in den Schmutz, in die Abwässer, in den Gestank. Es geht vorbei an den Überresten der ermordeten Kinder bis zu der Höhle, in der ein Wesen haust, in dem sich das Böse verkörpert. In diesem speziellen Fall ist es ein Tier, das wohl den meisten von uns extremen Ekel bereitet, nämlich eine überdimensional große Spinne.

 

Die Spinne hat wohl die meisten Attribute des Horrors in sich vereint. Ihre Menge an Beinen, die Kauwerkzeuge, das oft giftige Hinterteil und natürlich die Produktion von Spinnweben. Es gibt kaum eine grausigere Vorstellung als ein in klebrige Spinnweben eingewebtes Opfer, dem sich die Spinne nähert und das schließlich von ihr in Teile gerissen und verspeist wird, und man stelle sich das Ganze noch in Lebensgröße vor. Das ist wirklich der Stoff, aus dem die Horror-Alpträume sind.

 

Und in der Kanalisation von Derry werden diese Alpträume wahr. Eingesponnene Menschen, die aber (leider) noch nicht tot sind. Eine riesige Spinne, die im Dunkeln lauert und auch noch eine Menge Eier in ihrem hässlich aufgeblähtem Bauch trägt, um sich zu vermehren. Mehr Horror ist ganz einfach nicht mehr möglich.

 

Der King treibt es hier auf die Spitze und lässt den Leser nicht mehr zu Atem kommen. Der grausige Kampf gegen diese Kreatur verursacht beim ihm einen Sauerstoffmangel und man ist letztendlich froh, als es vorbei ist. Nicht alle Beteiligten überleben, aber schließlich ist der harte Kern am Ende noch übrig und Derry und schließlich die Welt ist vom Bösen befreit.

 

Mag auch der Plot (und das gehört zur Horrorliteratur) an manchen Stellen etwas trivial klingen, so geht es in Wirklichkeit um die dahinter liegenden großen Wahrheiten.

 

Horror ist Mythos. Die fundamentalen Ängste des Menschen, die er in tiefer Nacht alleine durchlebt, wirken bei Tageslicht oft lächerlich. Aber die einsame Finsternis nimmt uns mit in die Welt der Phantasie und lässt alle grausigen Vorstellungen Wahrheit werden. Ein Spaziergang durch den nächtlichen Wald, in dem ein Verbrechen beinahe ausgeschlossen ist (Welcher  Mörder treibt sich in der Nacht im Wald herum?) jagt uns unmäßige Angst ein, während wir uns in den belebten Städten, wo die Wahrscheinlichkeit, einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, viel größer ist, vergleichsweise angstfrei fühlen.

 

Die Urängste und der „Urekel“ leben in uns auch in einer zivilisierten Welt weiter und lassen sich auch durch die technischen Errungenschaften nicht ausrotten. Stephen King nimmt uns in seinen Romanen mit in diese Urformen des Grauens und gibt uns die Möglichkeit, durch die Konfrontation mit dem Erfundenen unsere realen Ängste zu relativieren. Wir erleben im Horror eine Katharsis, die Grundfunktion des Mythos und der Literatur.

 

 

Die Frage, warum ihr uns mit künstlichem Horror belasten, wo doch schon genug realer Horror in der Welt ist, kann also folgend beantwortet werden: Das künstliche Grauen reinigt uns von der Emotion der überdimensionalen Angst und lässt uns gestärkt den realen Ängsten des Lebens entgegentreten.